Dirk Oschmann
Der Osten. Eine westdeutsche Erfindung
Im Osten werden nach wie vor nur 1/7 der durchschnittlichen Vermögen wie im Westen vererbt (ca 20.000€ in Thüringen zB vs 145.000€ in Baden-Württemberg), man verdient dort im Schnitt 22,5% weniger als in vergleichbaren Positionen und mit vergleichbaren Erfahrungen als im Westen – und hat in Jena, Leipzig oder Dresden kaum geringere Lebenshaltungskosten als in vergleichbaren westlichen Städten. Sagt jemand aber etwas dazu und weist auf Ungleichheiten hin, wird das schnell als undankbares Jammern abgetan.
In der Ausstellung 60 Jahre. 60 Werke. Kunst in der Bundesrepublik Deutschland von 1949-2009 wurde kein einziges Bild aus Ostdeutschland gezeigt. Kein Buch von ostdeutschen Autor*innen ist Schullektüre. Professuren an ostdeutschen Städten sind fast ausschließlich mit Westdeutschen besetzt. Bundesbehörden und Forschungseinrichtungen sind laut einer Entscheidung der Föderalismuskommission von Bundestag und Bundesrat von 1992 vorrangig im Osten anzusiedeln – das ist nicht passiert.
Der Anteil Ostdeutscher in Spitzenpositionen in Wissenschaft, Jurispudenz, Medien und Verwaltung beläuft sich auf 1,7%. (Und das liegt nicht daran, dass sie sich nicht bewerben oder schlechter qualifiziert wären. In den Nach-Wendejahren wurden z.B. alle geisteswissenschaftlichen Professuren ostdeutscher Universitäten mit Professor*innen aus den westdeutschen Universitäten besetzt, die (Post)Doktorand*innen selbst mitbrachten. Damit waren alle führenden Positionen an diesen Lehrstühlen für Studierende in den ostdeutschen Universitäten für mehr als 30 Jahre nicht erreichbar, weil eben besetzt.)
Wir stellen ein/befreunden uns mit, wer uns ähnlich ist, das ist in vielen Studien nachgewiesen. Wer sich von dieser unterbewussten Beeinflussung frei machen will, muss sich beständig selbst hinterfragen. Das ist anstrengend und erfordert viel Auseinandersetzung mit sich selbst (siehe z.B. Annahita Esmailzadeh: Von Quotenfrauen und alten weißen Männern. Schluss mit Vorurteilen in der Arbeitswelt).
Dafür sind westdeutsche Rechtsextreme gezielt in den Osten gegangen und besetzen dort mittlerweile in Sachsen ganze Landstriche (vergleiche zum Beispiel Fake Facts von Pia Lamberty / Katharina Nocun und die Anastasia Bewegung). All das belegte Dirk Oschmann, Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Leipzig nicht nur in einem viel diskutierten Artikel in der FAZ 2022, sondern noch viel ausführlicher in „Der Osten. Eine westdeutsche Erfindung“.
Ich wurde in Ostberlin geboren, bin im Osten zur Schule gegangen und lebe seit ca 20 Jahren in München. Ich kenne Sätze wie „Du kommst aus dem Osten? So siehst du aber nicht aus!“ und das Bedürfnis, sich anzupassen.
Wenn über den Osten medial gesprochen wird, dann ist das häufig voll sich selbst bestätigender Vorurteile.
Als der MDR gezielt Reporterinnen mit ostdeutschem Hintergrund suchte und deshalb westdeutsche Journalist*innen entließ, sorgte das für einen Aufschrei. Warum ist es akzeptierter, Menschen über den Osten sprechen zu lassen, die nicht von dort kommen, als solche gezielt einzustellen, die diese Spreche eben sprechen?
Sollten wir nicht weiter sein? Sollten wir nicht soziale und wirtschaftliche Unterschiede anerkennen als nicht selbst produziert(70% Deindustrialisierung nach der Wende) und sehen, dass in der ehemaligen DDR ein großes Privatvermögen nicht möglich war, weil enteignet und Besitz als negativ angesehen wurde?
Ist es nicht Zeit, Versprechen einzulösen von Solidargemeinschaft, Ansiedlung von großen Behörden und gezielter Ansprache von ostdeutschen Absolvent*innen?
Ich würde es mir wünschen.